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Autor: Lydia Arndt

Vom Gold in unseren Krisen, Erkrankungen und unserem Scheitern.

Leben verläuft nicht linear. Es verläuft nicht immer nach Plan. Manchmal verläuft es auch nicht so, wie wir es uns wünschen. Und manchmal wird es genau dadurch besser.

Leben ist, wie eine Wanderung durch unterschiedliche Landschaften. Mit kräftigen Vorwärtsschritten und zögerlichen Rückschritten, es gibt Gebiete mit einzunehmenden Bergen, wo wir mit Sonne, Wärme und weiter Sicht gesegnet sind. Und ebenso tauchen Täler auf. Und manchmal gibt es wirkliche Einbrüche, Schluchten, in die wir stürzen können.

All das nennt sich Leben. Mit all dem dürfen wir leben, mal besser, mal schlechter.

Und aus eigener Erfahrung weiß ich, es wird leichter, wenn wir darum wissen. Dass all das und noch viel mehr zum Leben gehört.

Hören wir deshalb nicht auf Pläne zu machen. Um Gottes Willen. Pläne sind wichtig und richtig!

Tun wir es nur mit einer inneren Bescheidenheit. Weil wir wissen, es kann geschehen, dass wir das Ziel nicht erreichen. Es kann sein, dass wir scheitern, dass uns mittendrin die Kraft ausgeht, dass wir die Lust verlieren, dass wir krank werden oder jemand in unserem Umfeld.

Und dass all das unser Leben ist. Unser einzigartiges Leben. Und dass es darauf ankommt, was wir daraus machen.

Wir können mit Verachtung auf das Scheitern, die Verletzung, die Krankheit, die Erschöpfung schauen oder wir können versuchen sie anzunehmen. Sie in unser Leben zu integrieren.

Lassen Sie uns endlich gemeinsam eine Sprache sprechen, die alles einschließt. Lassen Sie uns wagen über Verletzungen, Erkrankungen zu sprechen, über Krisen. Lassen Sie uns die begrenzende Scham loslassen.

Öffnen wir uns für „… das Potenzial und für die Erkenntnis, dass einem vermeintlichen Verlust eine eigene Wahrheit und eine Geschichte innewohnen könnte, die es wert ist, erzählt zu werden.“.

Klaus Motoki Tonn, Kintsuki

Beim Annehmen meiner eigenen Erkrankung vor einem Jahr hat mir das Buch „Kintsuki“ von Klaus Motoki Tonn sehr geholfen. Hier beschreibt er die alte Technik, Scherben wieder zu einem Gefäß zusammenzusetzen und dabei die entstandenen Risse und Brüche zu vergolden.

In der alten Technik des japanischen Kintsuki weiß man, um die Geduld die es braucht Risse oder Brüche zu integrieren. Und es beginnt mit dem Schauen, mit dem Betrachten der Scherben, die vor einem liegen. Es beginnt mit dem Chaos.

Und genau dieser Beginn im Chaos braucht Zeit, wie uns die alte Technik Kintsuki lehrt.

Das Betrachten der Scherben. Der tiefe Schrecken inmitten des Chaos. Nichts ist hier mehr verlässlich. Nichts ist hier mehr bekannt. Keine Gewohnheit trägt.

Genau deshalb braucht es Zeit und und ganz viel Selbstliebe. Bis wir zum Würdigen der Scherben, zum Würdigen des Chaos kommen. Zum Würdigen, weil wir Zulassen, was ist. Ein Scherbenhaufen. Erstmal.

Dann erst kann das Loslassen folgen. Das Loslassen der Pläne. Das Loslassen des Vorherigen. Das Loslassen des alten, vorausgegangenen Lebens. Und dieses Loslassen braucht Zeit, weil es weh tut und umsorgt sein will.

Dann erst kann das Zusammensetzen der einzelnen Scherben erfolgen. Achtsam. Liebevoll. Das zerbrochene Gefäß bekommt wieder eine noch brüchige Form. Und es bekommt nicht nur wieder leichte Form, sondern auch noch kostbare goldenen Farbe auf die Risse, die Brüche, die Verletzungen.

Mir hat dieses Bild, der am Boden liegenden Scherben geholfen, mir Zeit zu nehmen und diesen Prozess des Zusammensetzens, diesen heiligen Prozess, diesen Heilungsprozess zu würdigen.

Mir hat dieses Bild nicht nur Verständnis und Erlaubnis geschenkt, sondern auch Vertrauen in das Leben und neuen Mut.

Auf einmal zeigt sich Neues, ganz überraschend neu und anders als gedacht. Auf einmal ist hier Gold im Spiel, ist da innerer Wert im Spiel. Nicht, wie gewohnt, weil wir so gut, so sprühend und leistungsstark waren. Nein, eher durch Prozesse von Zulassen, Seinlassen, Loslassen.

Können Sie sich das vorstellen, das genau diese Krisen uns Wert geben können, uns helfen uns deutlicher zu sehen, uns auf einmal anders zu schätzen, anders und inniger zu lieben? Uns selbst, die anderen und das Leben.

Und dann wird die neue Form gebrannt. Um im Bild vom Erkranken oder Scheitern zu bleiben, ja es tut immer noch weh. Es melden sich alle kritischen Stimmen auf einmal und bereiten Schmerzen. Sie alle dürfen mit ins Feuer, mit in den Ofen.

Auch hier braucht es wieder Zeit und Geduld. Und wenn das Gefäß aus dem Ofen kommt ist es ganz anders als zuvor. Und wieder braucht es Zeit zum Schauen und Betrachten. Endlich nach all dem Chaos und der Formlosigkeit zeigt sich hier erstmalig wieder verlässliche, feste Form. Neue form, die allein durch die goldenen Risse entstanden ist.

Ganz einzigartig sind die goldenen Risse anzuschauen. Strahlend schön lassen sie das neu zusammengesetzte Gefäß erscheinen.

So ist es auch mit dem Integrieren unserer eigenen Verletzungen. Haben wir sie integriert, haben wir sie angenommen, können sie für uns leuchten. Für uns selbst und für den, der tief schauen kann.

Ich habe das hier so ausführlich beschrieben, weil es uns zeigt, wir können uns mit dem Geschehenen „versöhnen“. Wir können auch in oder nach schweren Krisen Gestalter bleiben oder werden. Vor allem durch die liebevolle und freundliche Zuwendung zu uns selbst, zu unserem Schicksal, zu unserer Verletzung. Jeder Tropfen vergossenen Blutes, vergossenen Schweißes wird dadurch kostbar.

Erlauben wir uns die Einsicht, dass genau hierdurch neue Sinnzusammenhänge entstehen können, die uns Kraft geben für die Gegenwart.

Lassen Sie uns Brüche oder Risse in unserem Leben würdigen, so dass sie zur Quelle für unser weiteres Leben werden.

Leonard Cohen, der bereits verstorbene wunderbare Sänger hat genau hierzu seinen berührenden und eindrucksvollen Song Anthem verfasst. Er tat dies kurz vor seinem Tod und schenkte uns diese Zeile:

„There is a crack in everythink. That´s how the lights get in.“

Leonhard Cohen

Lernen wir mit dem Scheitern, dem Erkranken, dem Erschöpfen zu leben. Anders als zuvor. Vielleicht glänzender, kostbarer, strahlender. Wer weiß.

 

 

 

 

Menschsein genügt

Es hat sich etwas verändert. Ich erlebe es so, ich nehme es so wahr.

Seit der Pandemie fliegen uns die Themen – Stärke, Kraft, Resilienz, Gesundheit, Fitness – nur so um die Ohren, dass es rauscht.

Ich lese in den sozialen Medien Sätze wie:

 

„Entfalte dich. Entdecke dich neu. Befreie dich von deiner Vergangenheit. Stärke deine Resilienz. Stärke deine Kraft. Erschaffe dir eine strahlende Zukunft. Werde unzerstörbar, unbesiegbar. Nach der Krise ist vor der Krise.“

 

Es fühlt sich so an, als würden wir uns gemeinsam aufbauen. Als könnten wir so verhindern, dass uns so etwas nochmal passiert.

Und ehrlich gesagt, es macht mir ein wenig Angst. Es beginnt mich zu stressen. Das ist der Grund, warum ich mich mehr und mehr von den sozialen Medien fernhalte.

Was wir alles müssen in dieser Welt. Unglaublich.

Mir scheint, die Pandemie hat jedem einzelnen von uns deutlich gemacht, wie verletztlich wir Menschen in aller Wirklichkeit sind. Und es ist gut und richtig sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Mir scheint allerdings, wir verlieren die Mitte.

Was, wenn wir nicht sofort in die Reaktion gehen und uns aufbauen? Wenn wir uns neugierig damit beschäftigen, wie groß unsere Angst ist, vom Leben angehalten zu werden, krank zu werden, alt zu werden, unsere Ziele nicht zu erreichen. Nicht alles zu schaffen, nicht perfekt zu sein, irgendwann nicht mehr jung und dynamisch zu sein?

 

Sondern schlicht und ergreifend nur noch Mensch zu sein. Mit allem, was tatsächlich dazu gehört.

Über unglaubliche Potenziale zu verfügen und dennoch unglaublich verletzbar zu sein.

 

Leben ist nicht perfekt. Und wir müssen es auch nicht sein. Wir sind genug, so wie wir sind. Wie wäre es mit dieser Haltung durchs Leben zu gehen. So wie ich bin, bin ich richtig und angenommen. So, wie ich bin, gehöre ich dazu. So wie ich bin, bin ich wert.

 

Auch wenn ich krank bin, nicht so schlau bin, nicht so schnell bin, nicht so stark bin.

 

Öffenen wir unser Herz für uns selbst, für unser schlichtes Menschsein. Dazu lade ich ein. Öffnen wir unser Herz für eine heilsame Balance zwischen Anstrengung und Lassen, zwischen Disziplin und Sanftheit, zwischen Stärke und Verletzlichkeit.